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«Wer in einen Dienstwagen steigt, ist mit einem Fuss im Knast»
Fahren Polizisten in dringlichem Einsatz zu schnell, werden auch sie belangt. Die vielen 30er-Zonen erschweren die Arbeit in Notfällen zusätzlich.
Dass die Polizei die Polizei büsst, kommt immer wieder vor. Besonders zu reden geben jene Fälle, wo Polizisten auf «dringlicher Dienstfahrt» schnell fahren müssen – und unter Umständen dennoch belangt werden. Ein Genfer Polizist erhielt in einem aufsehenerregenden Fall eine bedingte Gefängnisstrafe von einem Jahr, weil er in einer Tempo-50-Zone mit 126 km/h geblitzt worden war – «im Einsatz, mit Blaulicht und Sirene, auf der Verfolgung eines gefährlichen Einbrechers», wie das Fachportal Blaulicht schreibt.
Auch im Kanton Aargau handelte sich eine Polizistin ein Strafverfahren wegen übersetzter Geschwindigkeit ein, ebenfalls bei der Verfolgung eines Verbrechers. Besonders pikant: Die Staatsanwaltschaft überführte sie dank einer Videoaufnahme der Verfolgungsjagd. Auch in der Stadt Zürich erwischte es Polizisten im Blaulichteinsatz wiederholt. STREETLIFE sind mehrere Fälle bekannt, in denen Angehörige der Stadtpolizei wegen übersetzter Geschwindigkeit der Ausweis entzogen wurde.
Problematischer Raserartikel
Diese Praxis sei frustrierend, sagt ein Polizist aus einem Deutschschweizer Kanton, der lieber anonym bleiben will. Er beschreibt, wie in seinem Korps das Bonmot umgeht: «Wer in einen Dienstwagen steigt, ist mit einem Fuss im Knast.» Zwar dürfen Blaulichtfahrende bei Dringlichkeit schneller fahren, aber auch für sie gibt es Grenzen. In 30er-Zonen beispielsweise sind 15 km/h mehr erlaubt, aber schon ab 16 km/k zu viel drohen Verfahren.
Art. 100 Abs. 4 des Strassenverkehrsgesetzes SVG definiert, dass die Lenkenden von Blaulichtfahrzeugen Verkehrsregeln missachten dürfen, wenn sie alle Sorgfalt walten lassen, die nach den Umständen erforderlich ist. Die Missachtung ist nur dann nicht strafbar, wenn die Personen die notwendigen Warnsignale geben. Grundsätzlich jedoch wird jede Übertretung auch bei Dringlichkeit überprüft.
Hat der Führer nicht die Sorgfalt walten lassen, die nach den Umständen erforderlich war, oder hat er auf dringlichen Dienstfahrten nicht die erforderlichen Warnsignale abgegeben, so bleibt seine Strafbarkeit bestehen, die Strafe ist aber zu mildern.
Als problematisch erachten Betroffene das Raserdelikt, das mit der Via sicura von Bundesrat Moritz Leuenberger eingeführt worden ist. Das gilt für die Polizei, aber ebenso für die Feuerwehr und die Ambulanz. Das starre System habe dazu geführt, dass Polizisten aus Vorsicht und Furcht häufig bei den Vorgesetzten nachfragen, ob ein Einsatz wirklich dringlich sei. Manche vermissen da den gesunden Menschenverstand und eine vernünftige Güterabwägung. Die Gesetzeslage und die gängige Justizpraxis führten dazu, dass man lieber nichts riskiere
Entscheidend für Leben und Tod
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Bericht des Gemeinderates von Allschwil im Kanton Basel-Landschaft vom März 2022, erstellt als Antwort auf eine parlamentarische Interpellation zum Thema «Tempo 30». Der mögliche Zeitverlust im Ernstfall könne bei Rettungseinsätzen «entscheidend» sein, schreibt der Gemeinderat, so beispielsweise bei Bränden oder Verunfallten mit Herz-Kreislaufbeeinträchtigungen. «Hier können Sekunden über Leben und Tod entscheiden.» Blaulichtorganisationen sollten sich primär auf ihren Auftrag konzentrieren können und sich nicht einer erhöhten Gefahr aussetzen müssen, im Rahmen ihrer Berufsausübung «ein Raserdelikt mit einschneidenden Konsequenzen zu begehen». Flächendeckende Temporeduktionen könnten so «fatale Auswirkungen» haben.
Ähnliche Bedenken wurden auch in Basel-Stadt und anderswo geäussert. Der vorherrschende Eindruck: Der Raserartikel widerspricht vielfach dem gesunden Menschenverstand. Geboten wäre demnach wieder ein Ermessensspielraum für die Richter. Das mag für normale Fälle gelten, aber es gilt erst recht für dringliche Dienstfahrten, die möglicherweise dem Schutz und Erhalt von Leben dienen.
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