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Politik & Wirtschaft •
Verkehrskommissionsmitglieder über neue EU-Führerschein-Richtlinie

SVP-Giezendanner: «Das ist eine Witzbombe»

Die Europäische Union plant Anpassungen für Autofahrerinnen und Autofahrer. Hätten die Neuerungen des aktuellen Entwurfs auch Chancen in der Schweiz? Die Mitglieder der Verkehrskommission, Benjamin Giezendanner, SVP AG, und Marionna Schlatter, Grüne ZH, geben ihre Einschätzung.

Noch in diesem Jahr soll im Verkehrsausschuss des EU-Parlaments über die neue Führerschein-Richtlinie beraten und abgestimmt werden. Möchte man in Zukunft einen Führerschein in der EU beantragen, schlägt die Grüne Karima Delli, Vorsitzende des Ausschusses, scharfe Anpassungen vor. Davon wären vor allem neue, aber auch ältere Autofahrerinnen und Autofahrer betroffen. Und auch den schweren Personenwagen würde es an den Kragen gehen.

In der auslaufenden Legislatur sitzen Benjamin Giezendanner, SVP-Nationalrat aus dem Kanton Aargau, und Marionna Schlatter, Grünen-Nationalrätin aus dem Kanton Zürich, in der Verkehrskommission des Nationalrats. Das Gremium berät unter anderem Geschäfte im Zusammenhang mit dem Führerausweis vor. Was die Vorschläge der EU anbelangt und ob diese für die Schweiz übernommen werden könnten, sind sie sich uneinig – aber nicht in allen Punkten.

Tempo 90 auf den Autobahnen

Hat man den Führerschein erfolgreich erlangt, stellt die EU, gemäss dem aktuell vorliegenden Entwurf der neuen Führerschein-Richtlinie, den Neulenkerinnen und Neulenkern ab nächstem Jahr neue Hindernisse auf die Fahrbahn. Genaugenommen auf die Autobahn. Denn hier sollen sie während einer Probezeit nur noch 90 km/h fahren dürfen. «Ich halte überhaupt nichts davon und bin gegen diesen bürokratischen Vorschlag», sagt Giezendanner. «Mit unseren Lastwagen sind wir mit 80 bis 85 km/h auf den Autobahnen unterwegs. Mit Tempo 90 werden Neulenker Lastwagen überholen, was zu massiven Verkehrsstaus auf vierspurigen Autobahnen führen wird», ist der CEO der Giezendanner Transport AG überzeugt. Das sei gefährlich, denn auch der Folgeverkehr müsse deswegen abbremsen. Er appelliert an die Vernunft: «Neulenker machen dafür eine Prüfung. Man soll mündige und handlungsfähige Menschen auch als solche behandeln.»

Die Idee der EU kann Schlatter von den Grünen hingegen nachvollziehen. Sie sieht jedoch auch Schwierigkeiten: «Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie das umgesetzt werden soll.» Zudem sei es nicht so, dass auf den Autobahnen am meisten Unfälle passieren würden. Ob sie sich das auch bei uns vorstellen könnte, kann sie weder mit Ja noch mit Nein beantworten: «Zuerst müsste man schauen, wie die Zahlen in der Schweiz sind.»

Prüfung nach Ablauf des grünen L

Geht es um eine erneute Fahrprüfung nach Ablauf der Probezeit, wie es der Entwurf der EU-Richtlinie vorsieht, herrscht mehr Einigkeit zwischen den zwei Kommissionsmitgliedern. So würde Giezendanner dies nicht ganz ausschliessen. «Das müsste geprüft werden», sagt er und befürchtet jedoch, dass es die Verkehrssicherheit nicht erhöhen würde, «womit Ressourcen für eine bürokratische Übung verwendet würden.»

Das ‹grüne L› hat die Verkehrssicherheit nicht massiv erhöht.

Benjamin Giezendanner, SVP-Nationalrat AG

Schlatter hält fest, dass die Schweiz der EU mit dem Führerausweis auf Probe schon voraus ist. «Das war ein guter Schritt», sagt sie. Dadurch mache man den Jungen klar, dass das Autofahren besonders am Anfang besonders heikel sei. Den Vorteilen des sogenannten grünen L ist sich Kommissionskollege Giezendanner nicht ganz so sicher und sagt: «Es hat die Verkehrssicherheit nicht massiv erhöht.» Bevor man allenfalls über weitergehenden Massnahmen – wie eben etwa eine erneute Fahrprüfung – redet, stimmen beide überein, braucht es zuerst eine Beurteilung des grünen L. «Es müsste evaluiert werden, was dieser bisher gebracht oder eben nicht gebracht hat», meint Giezendanner und kündigt an, dass er die Einführung einer weiteren Fahrprüfung sehr kritisch beäugen würde. Auch Schlatter sagt, dass man zuerst schauen müsste, ob sich der Führerausweis auf Probe bewährt und welchen Einfluss es gegeben hätte. Stelle man dann fest, dass es zu wenig wirksam gewesen sei, könne man darüber reden, ob man allenfalls noch nachfassen möchte. Sie hält jedoch fest: «Für mich ist es aber nicht der wichtigste Punkt.»

Fahren in der Nacht verbieten?

Könnte der wichtigste Punkt ein mögliches Nachtfahrverbot für Neulenkende sein, wie die Idee des EU-Verkehrsausschusses lautet? Wohl eher nicht. Und dennoch scheint eine solche Einschränkung für Schlatter prüfenswert. «Tatsächlich ist es so», sagt die Grüne, «dass Junglenkerinnen und Junglenker nachts und an Wochenenden überdurchschnittlich viele Unfälle verursachen.» Für Giezendanner hingegen ist das kein Thema. Für ihn wäre das eine Bevormundung von jungen Menschen, die handlungsfähig und mündig seien. Er sieht aber auch ein Problem bei der Fahrpraxis. «Wie will man Neulenker an den Verkehr annähern, wenn sie zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens nicht fahren dürfen?» Für ihn deshalb klar: «Das ergibt keinen Sinn.»

Medizin-Check für Ältere

Aber nicht nur die jüngsten, sondern auch die ältesten Automobilistinnen und Automobilisten sollen gemäss den Plänen von Karima Delli nicht mehr prüfungsfrei davonkommen. Ihr zufolge soll der Führerschein ab 60 auf jeweils sieben Jahre beschränkt werden, ab 80 dann auf jeweils zwei Jahre. Neben der kostenpflichtigen Ausweisverlängerung müsste man sich medizinisch und psychologisch überprüfen lassen.

Fast nichts Neues für die Schweiz. Hierzulande gilt, dass Seniorinnen und Senioren ab 75 Jahren alle zwei Jahre zum medizinischen Check müssen. Vor 2019 galt noch eine Altersgrenze von 70 Jahren. Am heraufgesetzten Alter, das auf eine parlamentarische Initiative des damaligen SVP-Nationalrats Maximilian Reimann zurückgeht, will Giezendanner festhalten: «Von mir aus sowie aus statistischer Sicht sollte die Alterslimite in der Schweiz bei 75 Jahren bestehen bleiben.» Geht es jedoch nach dem Aargauer Nationalrat müsste das heutige System angepasst werden, da es in dieser Form keine entscheidenden Vorteile bringe. Seine Vorschläge: «Stellen Ärzte fest, dass ein Patient ein gesundheitliches Problem hat, sollen sie dies melden.» Das sei heute noch nicht so strikt geregelt. «Als zweites könnt ich mir präventiv vorstellen, dass anstelle der ärztlichen Fahreignungsprüfung ab 75 die Verkehrstauglichkeit zusammen mit einem Fahrlehrer oder in Simulatoren getestet wird», empfiehlt der Verkehrspolitiker weiter.

Bundesrat setzt auf Eigenverantwortung

Im Sinne einer erhöhten Verkehrssicherheit wollte Marionna Schlatter den Bundesrat Mitte März mittels Postulat beauftragen, zu prüfen, wie die Fahrtauglichkeitsprüfung bei älteren Fahrzeuglenkenden durch ein Praxiselement verbessert werden könnte, damit auch die Fahrkompetenz – wie es sie auch in Artikel 14 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) vorgeschrieben ist – geprüft wird. In ihrem Vorstoss hielt sie vor einem halben Jahr fest, dass beispielsweise regelmässige Fahrstunden durch speziell geschulte Fahrlehrpersonen für ältere Fahrzeuglenkerinnen und Fahrzeuglenker denkbar wären. Von einem Bericht erwartete der Bundesrat keine neuen Erkenntnisse, weshalb er eine zusätzliche Überprüfung der Fahrkompetenz sowie obligatorische Fahrstunden in seiner Stellungnahme ablehnte. Stattdessen setzt die Landesregierung auf die Eigenverantwortung der Seniorinnen und Senioren.

«Mit dem medizinischen Untersuch wird nur die Fahreignung geprüft und nicht die Fahrkompetenz», bemängelt Schlatter nach wie vor das heutige System. Sie stellt sich deshalb die Frage, ob es nicht eine Weiterbildungspflicht brauche. «Zum Beispiel in Form eines obligatorischen Weiterbildungstags, der alle paar Jahre besucht werden müsste», schlägt sie vor.

Keine 3,5 Tonner ohne Prüfung

Mit einer neuen Ausweiskategorie B+ soll den SUV der Kampf angesagt werden – so zumindest könnte der Vorschlag zur neuen Richtlinie der EU interpretiert werden. Demnach dürften mit dem B-Führerausweis nur noch Autos bis 1,8 Tonnen gefahren werden. Für Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen müsste man erneut eine Fahrprüfung für B+ ablegen. «Das hätte in der Schweiz keine Chance», sagt Giezendanner. Die Leute würden sich fähig fühlen, 3,5-Tonner fahren zu können, und sich deswegen gegen ein solches Vorhaben wehren. «Jeder von uns ist schon mal umgezogen und hat einen 3,5-Tonner gemietet. Das wäre künftig nicht mehr möglich.» Er vermutet bei der Einführung einer solchen Kategorie auch eine Verschärfung des Fachkräftemangels. Denn damit verwehre man allen, die weniger gut ausgebildet seien und etwa bei der Post als Kurier arbeiten würden, 3,5-Tonnern zu fahren. Stattdessen «müssten sie noch eine weiterführende Prüfung machen.»

Eine Ausweiskategorie B+ für Autos über 1,8 bis 3,5 Tonnen? Mir gefällt der Gedanke, um ehrlich zu sein.

Marionna Schlatter, Grünen-Nationalrätin ZH

«In erster Linie geht es um die Verkehrssicherheit», sagt Schlatter und verweist auf Studien, die belegen, dass SUV-Fahrerinnen und -Fahrer mehr Unfälle verursachen. Damit ist etwa die im Jahr 2020 veröffentlichte Schadenstatistik der Axa gemeint. Gemäss dieser sorgten SUV 2019 für knapp 10 Prozent mehr Haftpflichtschäden als andere Personenwagen, bei SUV zwischen rund 2,1 und 3,5 Tonnen waren es gemäss Analyse 27 Prozent mehr. Aber vor allem aus ökologischer Sicht sympathisiert die Grüne mit der EU-Idee: «Mir gefällt der Gedanke, um ehrlich zu sein. Dadurch wird das Bewusstsein für das riesige Auto geschaffen, das man fährt.» Schwerere Autos seien «ein ökologischer Blödsinn». Um das Problem der Übermotorisierung zu lösen, schlägt die diplomierte Pilzkontrolleurin vor, «würde man bei der Steuer besser auch die Leistung einberechnen.»

Welche Bestimmungen die neue EU-Führerschein-Richtlinie definitiv beinhaltet, sollte Ende Jahr feststehen. Und die Folgen für die Schweiz? «Es muss überhaupt nichts übernommen werden», sagt Schlatter. Man schaue und übernehme das, was für die Schweiz Sinn ergibt. Auch Giezendanner meint, man schaue, sollte die EU neue Vorgaben machen, dass diese mit unseren harmonieren würden. Sein Kommentar zu den aktuellen Vorschlägen: «Das ist eine Witzbombe.»

Allfällige Anpassungen sind dann Diskussionsstoff für die kommende 52. Legislaturperiode. Und wer dann in Bundesbern das Sagen hat, entscheidet das Stimmvolk am 22. Oktober.

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