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Beschuldigter vor Gericht: «Das war ein indirekter Mordversuch»
Ein Iraker übersieht in Zürich das blinkende Rotlicht eines Bahnübergangs. Als er mit seinem Suzuki auf den Schienen steht, schliessen sich die Schranken. Ein nahender Güterzug erfasst den Wagen. Vor Gericht plädierte der Beschuldigte auf unschuldig – und präsentierte krude Theorien bis hin zum Mordkomplott.
«Gehen Sie weg dort!». Das sind die lauten Schreie einer Augenzeugin, die den Vorfall am 15. Juni 2023 in Zürich-Affoltern live miterlebt. Dokumentiert wird die Szene durch Videoaufnahmen. Darauf ist zu sehen, wie zahlreiche Personen hilflos zusehen müssen, wie ein Suzuki Swift auf dem Bahnübergang von einem Güterzug erfasst und kurz mitgeschleift wird.
Fast ein Jahr später hat der gefährliche Vorfall nun ein juristisches Nachspiel. Am Donnerstagmorgen musste sich ein Iraker (54) vor dem Zürcher Bezirksgericht verantworten. Bei ihm handelt es sich um den Fahrer des Kleinwagens. Die Zürcher Staatsanwaltschaft für Schwerpunktkriminalität hat ihn wegen fahrlässig grober Verletzung der Verkehrsregeln und fahrlässiger Störung von Betrieben im Dienste der Allgemeinheit angeklagt.
Gefährliches Manöver verhindert Schlimmeres
Doch wie kam es zur gefährlichen Situation auf dem Bahnübergang? An diesem verhängnisvollen Sommertag gegen 15.30 Uhr ist der Beschuldigte in seinem Swift Hybrid in Richtung Seebach unterwegs. Sein Weg führt ihn über den Bahnübergang beim Bahnhof Affoltern. Wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift schreibt, übersah der Mann aufgrund «mangelnder Aufmerksamkeit» die blinkenden Warnsignale.
Er steht mitten auf den Gleisen, als sich die Schranken schliessen. Die Wegfahrt ist nicht mehr möglich. Mit einem gefährlichen Manöver versucht der arbeitslose Iraker noch das Schlimmste zu verhindern. «Der Beschuldigte stellte seinen Personenwagen daraufhin neben der rechten Bahnschranke ab und verliess den Gleisbereich.»
Quasi in letzter Sekunde. In vollem Tempo nähert sich bereits der Güterzug der Linie 48688 mit dem Kennzeichen D BR 185, 185595-6. «Trotz der durch den Zugfahrer eingeleiteten Schnellbremsung kollidierte dieser mit dem Personenwagen, was in einem Sachschaden am Güterzug, dem vom Beschuldigten gelenkten Personenwagen sowie der Bahnschranke resultierte», heisst es in der Anklageschrift weiter.
Staatsanwaltschaft: «Zufall, dass keine Passagiere verletzt wurden»
Für die Staatsanwaltschaft habe der Iraker damit eine «pflichtwidrige Unvorsichtigkeit» an den Tag gelegt. Und es sei nur «dem Zufall zu verdanken», dass es sich beim betroffenen Zug um einen Güterzug gehandelt habe. Somit sei es reines Glück gewesen, dass «durch die verursachte Schnellbremsung keine sich im Zug befindenden Passagiere gefährdet oder verletzt wurden.»
Der 54-jährige Iraker ist für den Verstoss gegen Art. 90 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetz angeklagt. Dabei handelt es sich um ein Vergehen, das mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren sanktioniert werden kann. Im Fall des Beschuldigten fordert die Staatsanwaltschaft eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 Franken, insgesamt also 900 Franken.
Wirre Verschwörungstheorien vor Gericht
Vor dem Bezirksgericht Zürich präsentierte sich der arbeitslose Mann wenig einsichtig. Er sei völlig unschuldig in diese Situation geraten, wiederholte er sich vor dem Einzelrichter. So sah er die Schuld bei den SBB: «Die Bahnschranken sind nicht gleichzeitig runtergekommen», wie er erklärte. Lautstark forderte er eine Überprüfung des Bahnübergangs. Zudem sei der Güterzug erst nach 7 Minuten gekommen: «Wieso haben die SBB den Zug nicht gestoppt?» Für ihn sei das praktisch «ein indirekter Mordversuch» gewesen.
Der Mann, der seit 32 Jahren in der Schweiz lebt, eine IV-Rente und Sozialhilfe bezieht, räumte vor dem Richter aber ein, dass er gesundheitliche Probleme habe. Er leide an einem Lagerungsschwindel und hätte kurz vor der Bahnschranke einen Schwindelanfall gehabt. Darauf entgegnet ihm der Richter: «Wenn Sie wirklich an einem solchen Schwindel leiden, ist es fragwürdig, dass Sie überhaupt noch Autofahren.» Der Beschuldigte, der ohne Verteidigung vor Gericht erschien, forderte für sich einen Freispruch. «Ich bin unschuldig», wie er abschliessend sagt.
Das sah das Gericht aber anders. «In den Aussagen der Augenzeugen und im vorliegenden Videomaterial deutet nichts auf einen technischen Defekt seitens der SBB hin», so der Richter. Vielmehr hätten Zeugen ausgesagt, der Beschuldigte habe das Rotlicht missachtet. «Die Zeichen waren da, die Leuchten haben geblinkt, doch sie sind weitergefahren.» Für das Gericht liegt die Schuld deshalb klar beim Beschuldigten. Es folgte der Anklage der Staatsanwaltschaft und verurteilte den Iraker zu einer bedingten Geldstrafe von 900 Franken sowie zu einer Busse von 300 Franken.
Zusammenstösse auf Bahnübergängen sind keine Seltenheit
Die Videoaufnahmen des Vorfalls in Zürich-Affoltern sehen spektakulär aus. Ein Einzelfall sind sie allerdings nicht. Auf Schweizer Bahnübergängen kommt es immer wieder zu Zusammenstössen zwischen Autos und Zügen. Allein in den letzten 12 Monaten ereigneten sich hierzulande mindestens sechs Zwischenfälle, wie die folgende Galerie zeigt.

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