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Verkehr •
BfU und Fahrlehrer warnen

Neue Technologien überfordern Autofahrende

Autos sind längst fahrende Computer. Assistenzsysteme sollen den Menschen am Steuer unter die Arme greifen und so die Sicherheit erhöhen. Im Infotainment gibt es längst nicht nur Radio und Navi, sondern auch einen App-Store. Nur macht die Technik das Autofahren nicht leichter. Im Gegenteil: Viele sind überfordert.

Der Tacho zeigt 51 km/h. Das Auto piepst. Die Räder kommen der Mittellinie zu nahe. Das Steuer lenkt energisch in die Gegenrichtung. Der Blick bleibt etwas zu lange auf der Navi-Anzeige. Das Auto piepst wieder. Es gäbe noch unzählige weitere Beispiele, wie die Technologie in modernen Autos immer mehr um sich greift und teilweise auch die Kontrolle übernimmt.

Die sogenannten Fahrassistenz- und Sicherheitssysteme sollen, wie es der Name schon verrät, die Sicherheit auf den Strassen erhöhen. Das funktioniert aber nur, wenn die Personen am Steuer sie auch richtig einsetzen. Nur, die zahlreichen Assistenzsysteme, Schalter am Lenkrad, digitalen Instrumente und der Touchscreen lassen selbst langjährige und erfahrene Autofahrende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Das bestätigt Michael Gehrken, der Präsident des Schweizer Fahrerlehrerverbandes «L-Drive»: «Unsere Fahrerlehrer machen die Erfahrung, dass viele nicht genau wissen, wie die Assistenzsysteme funktionieren. Und zwar in allen Altersgruppen.»

Nicht während der Fahrt

Eine der verbreitetsten technischen Errungenschaften ist sogar eine Gefahr: der Touchscreen. Bis auf wenige Ausnahmen haben alle in der Schweiz erhältlichen Neuwagen einen berührungsempfindlichen Bildschirm in der Mittelkonsole (STREETLIFE berichtete). In der aktiven Fahrausbildung wird er nicht direkt behandelt, erklärt Gehrken. «Touchscreens werden teilweise im Verkehrskundeunterricht beim Thema Ablenkung angeschnitten – mit einer klaren Botschaft: Während der Fahrt ist das Infotainment tabu.»

Lenkende nicht überfordern

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung BfU sieht grundsätzlich bei der Bedienung im Fahrzeug noch viel Potenzial. Zu diesem Schluss kommt ein Sicherheitsdossier des BfU aus dem Jahr 2020. Es befasst sich mit Beeinträchtigungen der Fahrfähigkeit, wie sie beispielsweise durch Ablenkung entstehen. Bei 29 Prozent der schweren Verkehrsunfälle waren die Lenkenden abgelenkt. Das Sicherheitsdossier fordert deshalb: «Das Lenken des Fahrzeugs – inklusive der Nutzung verschiedener Fahrzeuginformations- und -kommunikationssysteme – sollte möglichst wenig Ressourcen erfordern und ein Minimum an Ablenkung generieren.» Damit die Person am Steuer sich auf den Verkehr konzentrieren kann.

Das Sicherheitsdossier schlägt sogar einen sehr radikalen Ansatz vor und fordert, sicherheitsrelevante Grundbedienungen markenübergreifend zu harmonisieren. Diese Forderung dürfte es schwer haben, da sich die Autobauer ungern vorschreiben lassen, wie sie ihren Innenraum und ihr Betriebssystem gestalten. Aber in einem dürften die Hersteller mit den Verfassern des BfU-Dossiers einig sein: Die Bedienmöglichkeiten im Auto dürfen die Lenkenden nicht überfordern. 

Die Bedienung im Stand üben

Nur ist das bei der Fülle an Möglichkeiten, die moderne Autos heute bieten, schneller passiert, als den Ingenieuren vielleicht bewusst ist. BfU-Sprecher Christoph Leibundgut sagt: «Moderne Autos erfordern eine erhöhte Aufmerksamkeit. Wir empfehlen deshalb dringend, die Bedienung des Fahrzeugs im Stand zu üben.» Denn jedes Auto ist anders und wichtige Handgriffe sollten automatisch funktionieren, ohne zu suchen. «Wo finde ich die Frontscheibenlüftung, wenn bei der Tunneleinfahrt die Scheibe anläuft? Wo die Umlufttaste, wenn es draussen riecht?» Auch wie die Temperatur reguliert oder der Scheibenwischer funktioniert, sollen Autolenkende üben. Dazu gehöre auch die Bedienung der Touchscreens, sagt Leibundgut.

Ebenso wichtig ist, dass sich Lenkende mit den Fahrassistenzsystemen vertraut machen, sagt der BfU-Sprecher: «Was kann z. B. der Notbremsassistent? Wo sind die Grenzen des Spurhalteassistenten?» Diesbezüglich streicht Leibundgut einen wichtigen Punkt heraus: «Es ist wichtig zu wissen, dass Fahrerassistenten eben Assistenten sind – sie fahren das Auto nicht selbst.» 

Auch der oberste Schweizer Fahrlehrer ist in Sachen Assistenzsysteme besorgt. Gehrken sieht bei vielen Autofahrenden entweder eine gewisse Unbedarftheit oder Unsicherheit: «Beides ist riskant, weil den Assistenzsystemen entweder blind vertraut oder eben grundsätzlich misstraut wird.» Die Folge: Viele stellen die Systeme lieber ab und diese können die Lenkenden nicht mehr unterstützen.

Was Assistenten nicht können

Die Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer müssen aktuell einen schwierigen Balanceakt schaffen. Den Lenkenden das nötige Vertrauen in die Assistenzsysteme vermitteln, damit sie sie auch nutzen, aber auch die nötige Vorsicht, damit sie ihnen nicht blind vertrauen. «Hauptaufgabe in der Fahrausbildung ist nicht nur zu zeigen, was heutige Assistenzsysteme leisten können, sondern vor allem auch, was sie nicht können. Es gibt noch keine Autopiloten», fasst Gehrken zusammen.

Vorerst gehören die Hände ans Lenkrad und die Aufmerksamkeit dem Verkehr. Wer am Steuer sitzt, kann sich nicht zurücklehnen. Und auch wer sein Auto bestens kennt, dem rät BfU-Sprecher Leibundgut: «Stelle sämtliche Unterhaltungsgeräte vor der Fahrt ein. Wähle vor dem Losfahren den gewünschten Bildschirm. Halte an, um das Navi einzustellen.» Denn eine falsche Berührung und die Anzeige macht etwas Unerwartetes, das deinen Blick länger als geplant vom Verkehr ablenkt. In jeder Sekunde, in der du bei Tempo 50 nicht auf die Strasse schaust, legst du knapp 14 Meter zurück. Das entspricht etwa der Länge eines Reisecars.

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