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In fast jedem Auto steckt Schweiz
In fast allen Autos steckt ein Stückchen Schweiz: Wir sind einer der wichtigsten Entwicklungspartner und Zulieferer der Autoindustrie – nur merkts fast keiner. STREETLIFE spricht mit der Professorin Anja Schulze von der Uni Zürich über eine unserer meistunterschätzten Branchen.
Pharma, Banken, Uhren – aber Auto? Gehts um bedeutende Schweizer Wirtschaftszweige, wird eine Branche meist vergessen, obwohl sie in Umsatz und Mitarbeitenden immerhin halb so gross ist wie die omnipräsente Uhrenindustrie: die Schweizer Autoindustrie! Wir sprechen wohlgemerkt nicht etwa über Importeure und Garagen: Fast 600 Schweizer Fahrzeugbauer und Autozulieferer halten 34'000 Menschen in Lohn und Brot.
Dass es detaillierte Zahlen dazu gibt, ist das Verdienst von Anja Schulze (50). Die Professorin für Mobilität und Digitales Innovationsmanagement an der Universität Zürich und Direktorin des Swiss Center for Automotive Research (SwissCar) hat vor gut 20 Jahren begonnen, mal jene Firmen zu identifizieren und zu analysieren, die den grossen Namen der Autowelt deren Kolben und Elekromotoren, Sensoren und Schrauben zuliefert.
STREETLIFE: Anja Schulze, ist die Schweizer Autoindustrie mehr als eine Nische?
Anja Schulze: Natürlich ist sie kleiner als etwa die Pharmaindustrie. Aber 34'000 Mitarbeitende und 12,3 Milliarden Franken Jahresumsatz – so die Zahlen aus unserer letzten Studie – sind beileibe nicht ohne.
Aber wieso weiss hierzulande fast niemand von globalen Schweizer Branchenplayern wie zum Beispiel Autoneum aus Winterthur ZH, dem Weltmarktführer im Akustik- und Wärmemanagement für Autos?
Wenn sich jemand im Industriebereich bewegt, wird das schon registriert. Aber es steht halt nicht «Autoneum inside» auf den Einstiegsleisten oder den Dämmmatten, wenn Sie die Autotür öffnen. Wenn es um Schrauben oder einen Regensensor geht, könnten Sie es nicht mal mehr sehen, wenn Sie danach suchen würden. Und zudem: Autoneum ist ja noch ein grosses Unternehmen, aber vier Fünftel der Autozulieferer hier sind KMU.
Geben Sie uns ein weiteres typisches Beispiel für ein Zulieferunternehmen?
Da gäbe es unzählige, aber ich greife mal eins heraus. Die Reishauer AG aus dem zürcherischen Wallisellen fertigt Zahnradschleifmaschinen hauptsächlich für Autohersteller und -zulieferer und erneuert seinen Hauptsitz mit Produktions- und Logistikhallen sowie Verwaltungsgebäude komplett – weil Elektromotoren andere, hoch präzise geschliffene Zahnräder benötigen wegen höherer Drehzahlen und mehr Drehmoment und zwecks weniger Reibung zugunsten der Reichweite.
Hightech also! Was sind denn sonst die Stärken der Schweizer Zulieferer – und was die Schwächen?
Die Stärken sind hohe Qualität und Innovationsfähigkeit, Ausbildungsstand, Zuverlässigkeit und Liefertreue sowie finanzielle Ressourcen. Aber die Schweiz ist einfach teuer. Hohe Lohnkosten und der starke Franken, der Exporte verteuert, sind schon Hürden: Die Autoindustrie ist in Sachen Kosten nicht besonders tolerant.
Schweizer Autoindustrie in Zahlen
Zuletzt 2018 untersuchte die nach 2008 und 2013 dritte Studie (die vierte folgt 2024) des Swiss Center for Automotive Research (SwissCar) die Schweizer Autoindustrie. Wohlgemerkt ohne Zweigwerke im Ausland kamen Fahrzeug- und Teilehersteller im Bereich Auto darin auf 574 Unternehmen, die 34'000 Mitarbeitende beschäftigen und im Jahr 12,3 Milliarden Franken Umsatz generieren. Neun von zehn der Firmen sind KMU, fast die Hälfte fertigt Bau- und von diesen 42 Prozent Antriebsteile. Hauptabnehmerland ist Deutschland.
Es gibt auch Fahrzeugbauer. Wäre ein Elektroauto made in Switzerland schlicht zu teuer?
Das wäre jetzt Kaffeesatzlesen. Es ist natürlich schon so, dass eine neue Technologie wie die Elektromobilität immer dazu führt, dass sehr viele kleine Unternehmen mit innovativen Ideen entstehen. Doch es ist immer auch so, dass es früher oder später eine Bereinigung gibt und der Grossteil dann wieder verschwindet. Das Ganze ist eben sehr kapitalintensiv, da stellt man nicht einfach so eine Autofabrik hin. Es gibt auch ein paar Beispiele wie Designwerk, Flux Mobility, Kyburz, Microlino oder Piëch. Aber dass die in die Breite gehen, sehe ich derzeit nicht. Man darf nicht vergessen, dass Startups anderswo – etwa in China – ganz andere Starthilfen geniessen.
Die Gesetze werden immer strenger, Stichwort CO2-Ausstoss oder auch Sensorik. Ist das positiv für die Knowhow-starken Schweizer oder negativ, weil das Gros noch eher im Verbrennerbereich tätig ist?
Eher ersteres. Die Schweiz liegt in Innovationskraft im Ländervergleich seit über zehn Jahren unangefochten auf Platz eins – das muss man sich mal vorstellen! Dies, weil Unternehmen hier ideale Rahmenbedingungen vorfinden und sie auch ausschöpfen. Und Innovation ist letztlich das, was diese Branche am Leben hält.
Aber sind die Schweizer Zulieferer auf den Wandel zur E-Mobilität vorbereitet?
Sie ist auf jeden Fall nicht unvorbereitet – siehe Reishauer und andere. Ich bin da vorsichtig optimistisch: Käme der Wandel, könnte die Branche es packen. Die Branche sieht, da ändert sich etwas, und dann wird reagiert. Aber das ist eben sehr individuell: Manche investieren, andere steigen aus dem Autobereich aus. Und eine Minderheit sagt: Das sehe ich im Moment nicht, weil noch vor allem Verbrenner abgerufen werden.
Schiessen Sie da gerade gegen die Elektromobilität?
Nein, gar nicht, ich will das gar nicht als gut oder schlecht werten. Aber es ist eben noch kein riesiger Markt und noch kein Drama, nicht dabei zu sein: Wo steht denn heute jemand Schlange für Elektroautos? Bei rein elektrischen Autos sind wir in der Schweiz und in Europa bei etwa 15 Prozent Neuwagen-Verkaufsanteil. Natürlich sind 15 Prozent nicht zu verachten, aber 85 Prozent des Umsatzes wird eben noch im Verbrennerbereich generiert.
Sie haben in der Corona-Absatzkrise mal gesagt: «Hustet Deutschland, hustet die Schweiz mit.» Ist eine Schwäche der vor allem belieferten deutschen Hersteller für Zulieferer das Schreckensszenario?
Ja, denn vier Fünftel der Betriebe liefern nach Deutschland, dahinter folgen Ost- und Westeuropa, China und die USA. Nun könnte man natürlich umstellen und sagen: Wir sind hier ja nicht in Deutschland und wir sind kein Teil von zum Beispiel Volkswagen, also könnten wir ja auch an andere Hersteller in anderen Ländern liefern. Aber einen neuen Kundenstamm und dafür neue Produkte aufzubauen, ist natürlich herausfordernd.
Was sagen Sie, wenn bei zum Beispiel Stellenabbau eines Autoherstellers sofort «Krise!» gerufen wird?
Dass man sich vor Pauschalurteilen hüten soll. Angesichts der vielen globalpolitischen und technologischen Bewegungen muss man das heute immer individuell betrachten. Warum werden denn da Stellen abgebaut? Wurde vielleicht ein neuer Bereich geschaffen, der nicht funktioniert hat und wieder abgebaut wird? Sowas muss weder das Unternehmen noch Schweizer Zulieferer gefährden, das muss man differenziert analysieren.
Zum Abschluss eine persönliche Frage: Sind Sie eigentlich Autofan – und was fahren Sie?
Nein, ich bin kein ausgesprochener Autofan, mich interessiert das Thema von der wissenschaftlichen Seite. Und ich fahre auch oft ÖV. Aber zu Ihrer Frage: Ich fahre einen Volvo und fahre sehr gerne und gerne zügig.
Autoinnovation hat bei uns Tradition
Zwar baut die Schweiz keine Grossserien-Fahrzeuge mehr, aber Innovation im Autobereich und Fahrzeugbau hat Tradition. Drei Beispiele: Turbolader (Saurer), Brennstoffzelle oder die Commonrail-Dieseleinspritzung (ETH Zürich, FPT Arbon TG) sind Schweizer Erfindungen. Die superbreiten Spezialbusse, in denen wir heute zu wartenden Flugzeugen gebracht werden, entstanden 1978 aus einer Idee des Flughafens Zürich beim namhaften Bushersteller Carrosserie Hess aus Bellach SO – und daraus die Marke Cobus, die heute drei von vier Flughafenbussen der Welt baut. Die Post fährt sogar in Australien die elektrischen Zustell-Dreiräder von Kyburz aus Freienstein ZH, und unzählige europäische Kommunen setzen auf die Fahrzeuge von Meili aus Schübelbach SZ. Das Gros der knapp 600 Schweizer Branchenbetriebe sind jedoch Zulieferer und Maschinenbauer.

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