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Politik & Wirtschaft •
Individualverkehr soll Bäumen weichen

In elf Schweizer Städten tobt der Kampf um die Strassen

Es geht um jeden Quadratmeter. In mehreren Schweizer Städten kommen Initiativen vors Volk, die Teile des Strassennetzes in Grünraum und für Langsamverkehr umwandeln wollen. Ziel der Initianten: Statt motorisierter Individualverkehr, mehr Grün, Velos, ÖV und Fussgänger.

Diese Abstimmung sorgt in Winterthur für grosse Veränderungen. Bis 2040 müssen acht Prozent, also 250'000 Quadratmeter, des Strassennetzes umgewandelt werden. Entweder werden sie zu Grünflächen mit Bäumen oder für das Velo, den ÖV oder Fussgänger umgenutzt. Das heisst aber auch: Für den motorisierten Individualverkehr wird es in der ohnehin schon stark verstopften Stadt noch enger.

Die Winterthurer Bevölkerung hat am 9. Juni zwei entsprechenden Vorlagen zugestimmt und damit die Gegenvorschläge des Winterthurer Stadtrates angenommen. Diese waren eine Reaktion auf die sogenannte Stadtklima-Initiative, die aus zwei Volksinitiativen besteht: Der Initiative für eine zukunftsfähige Mobilität, kurz «Zukunfts-Initiative», und der Initiative für ein gesundes Stadtklima, die Gute-Luft-Initiative. Und diese beschäftigen längst nicht nur die Winterthurer. In insgesamt elf Städten schweizweit kamen oder kommen sie vors Volk.

Verein startet Initiativen

Hinter den Stadtklima-Initiativen steht der Verein Umverkehr, der sich seit 1992 in der Verkehrspolitik engagiert. Damals noch für eine Halbierung des motorisierten Individualverkehrs. Aktuell sammelt der Verein in Städten Unterschriften für die Stadtklima-Initiativen und stützt sich dabei auf Unterstützung durch linke und grüne Politiker der jeweiligen Stadt. Der Verein wird von Mitgliedern und Sponsoren finanziert.

Das ist die Vorlage

Die Stadtklima-Initiative von Umverkehr besteht jeweils aus zwei Initiative:

Einerseits die Gute-Luft-Initiative. Sie fordert, dass in den nächsten zehn Jahren jährlich mindestens 0,5 Prozent der Strassenfläche in Grünraum mit Bäumen umgewandelt wird.

Andererseits die Zukunfts-Initiative. Diese verlangt, dass jährlich 0,5 Prozent der Strassenquadratmeter in Fläche für ÖV, Fuss- oder Veloverkehr umgewandelt werden. Die initiativen sollen gegen Hitze und Verkehrsüberlastung in Städten helfen.

Wo bleibt das Gewerbe?

«Die Stadtklima-Initiativen schaden den Städten», sagt Benjamin Giezendanner und fügt an, noch gehe es den Städten gut, aber dazu brauche es das Gewerbe. «Zum Beispiel gibt es heute Möbelgeschäfte in der Stadt, diese brauchen aber gute Zufahrtsmöglichkeiten, sonst gehen sie unter», so der SVP-Nationalrat. Es stelle sich auch die Frage, ob bei einer solchen Politik, die Arbeitsplätze in Schweizer Städten erhalten werden könnten, meint Giezendanner.

Korrektiv werde kommen

«In Aussenquartieren kann so etwas gehen, nicht aber in der Stadt», sagt Giezendanner zur Stadtklima-Initiative. Kantonale Tangenten würden übrigens auch nicht einfach in 30er-Zonen verwandelt werden können, so SVP-Politiker und Mitglied der Verkehrskommission Giezendanner. Er kritisiert auch das Vorgehen von Umverkehr. «So eine Standardproduktlösung für links-grüne Städte überzeugt aus demokratiepolitscher Sicht nicht», sagt Giezendanner. Wenn die SVP schweizweit gegen Strassenabbau vorgehen würde, dann mit einer nationalen Initiative, über die alle abstimmen, erklärt der Aargauer Nationalrat.

Eine solche dürfte aber nicht nötig sein, so Giezendanner. Denn: «Wenn die Stadtbewohner merken, was es sie kostet und wie ihre Mobilität eingeschränkt wird, werden sie eine solche Verkehrspolitik nicht mehr unterstützten», sagt der Nationalrat Giezendanner zur Stadtklima-Initiative. Auch geht er davon aus, dass zum Beispiel in Aarau, die Forderungen der Initiative nicht gleich umfangreich aufgenommen werden dürften. «Das Korrektiv wird kommen», so Benjamin Giezendanner.

Aufs Velo umsteigen

Daniel Costantino vom Initiativkomitee in Winterthur ist überzeugt: «Wir sind immer mehr Leute in den Städten und wer nicht mit dem Auto fahren muss, der sollte auf den ÖV oder das Velo umsteigen.» Die Alternative seien verstopfte Strassen, sagt Costantino. Er ist Kampangerleiter vom Verein «Umverkehr», der 2020 die erste von heute bereits elf Stadtklima-Initiativen lancierte. Für ihn ist klar, in Zukunft braucht es platzsparende Transportmittel und mehr Grünflächen.

«Eine weitere Stadtklima-Initiative wird eventuell nächstes Jahr in Schaffhausen lanciert», sagt Costantino. Allerdings wehre sich die Stadt zurzeit primär gegen den Autobahnausbau, so der Kampagnenleiter.

Stadtklima-Initiative in elf Städten

In insgesamt elf Städten ist Umverkehr bereits aktiv – und zwang die Stadtregierungen zum Handeln. Zwar unterstützen die meisten Städte grundsätzlich die Stossrichtung der Initianten, sehen aber im geforderten Umfang und im vorgegebenen Zeitraum ein Problem. Deshalb kommt es in den meisten Städten zu Gegenvorschlägen.

In Chur, St. Gallen, Genf, Ostermundigen und jetzt eben Winterthur wurden diese Gegenvorschläge zwischenzeitlich angenommen. Der Berner Stadtrat empfiehlt ebenfalls einen Gegenvorschlag zur Abstimmung und Zürich kommt im September ein solcher vors Volk. Zudem wurde in Aarau und Biel die Stadtklima-Initiative eingereicht und in Burgdorf findet aktuell eine Unterschriftensammlung statt.

Abgelehnt wurde die Initiative bisher in Basel-Stadt.

8 Prozent weniger Strassenfläche in Winterthur

Nach der Abstimmung steht die Stadt Winterthur nun vor einer grossen Herausforderung. Sie muss bis 2040 8 Prozent des Strassennetzes umwandeln. Ist das überhaupt möglich? «Das Strassennetz selbst wird nicht kleiner werden», erklärt die Winterthurer Stadträtin Christa Meier (SP) gegenüber STREETLIFE. Die Umsetzung der angenommenen Gegenvorschläge werde vor allem auf Quartierstrassen stattfinden. «Dort, wo heute schon Tempo 30 gilt, werden grossflächig Begegnungszonen markiert werden, also Tempo 20 und Vortritt für den Fussverkehr», sagt sie.

So standen die Parteien in Winterthur zur Stadtklima-Initiative

Für ein Ja zu den Gegenvorschlägen und die Initiativen waren die Alternative Linke Winterthur, die Grünen und die SP.

Die Mitte, FDP und SVP warben für ein Nein gegen die Initiativen sowie die Gegenvorschläge

Der Stadtrat lehnte die Initiativen und Gegenvorschläge ab, weil beide unverhältnismässig hohe Kosten und Aufwände verursachen und die Erreichung der ökologischen Ziele gefährden (z. B. den Ausbau der Fernwärme). So die Abstimmungsempfehlung.

Für die Gegenvorschläge aber gegen die Stadtklima-Initiativen waren die GLP und EVP.

Doch was heisst das konkret? In Winterthur entstehen neue Grünflächen im Umfang von 5’300 Quadratmetern pro Jahr und es werden insgesamt 500 Bäume gepflanzt. Hinzukommen jährlich 11’300 Quadratmeter Strasse, die anstatt von Autos von Fussgängern, Velofahrerinnen und ÖV genutzt werden. Das sind 250’000 Quadratmeter Strasse, was etwa 35 Fussballfeldern entspricht. Die genauen Details zur Umsetzung müssten allerdings noch ausgearbeitet werden, so Meier.

Jetzt Zürich

Bereits im September beschäftigt die Stadtklima-Initiative die Stadtzürcher Bevölkerung. Auch hier sieht der Stadtrat die Vorstellungen der Initianten als zu umfangreich an und legt zwei Gegenvorschläge vor.

Diese sehen vor: Innerhalb von 10 Jahren sollen in Zürich 462 000 Quadratmeter Strassenfläche für Fussgänger, Velos und ÖV umgewandelt werden. Weitere 145 000 Quadratmeter Strasse sollen für Bäume und Grünflächen genützt werden. Damit trifft Zürich immer noch die Bedürfnisse der Initianten. Umverkehr hat in der Limmatstadt die Stadtklima-Initiative zurückgezogen.

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