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«Ich verlasse mich nur auf mich»
Millionen Menschen fahren jeden Tag in ihren Fahrzeugen durch die Schweiz. Jeder geht davon aus, dass sich die anderen an die Regeln halten. Ist dieses Vertrauen in unsere Mitmenschen gerechtfertigt? STREETLIFE hat bei einer Verkehrspsychologin nachgefragt.
An einer Kreuzung gibt es zwei Arten von Autofahrenden: Die Vorsichtigen und die Vertrauensvollen. Der Unterschied zeigt sich, sobald ein anderes Auto an die Kreuzung kommt und dessen Lenker mittels Blinker anzeigt, abbiegen zu wollen. Vertrauensvolle Menschen fahren schon in die Strasse, die vorsichtigen warten, bis das andere Auto wirklich abbiegt.
Verkehrspsychologin Charlotte Wunsch gehört zur zweiten Sorte: «Ich vertraue anderen Autofahrenden nicht.» Das hat zwei Gründe: «Erstens arbeite ich mit den Menschen, die im Strassenverkehr Fehler gemacht haben. Und zweitens mache ich selbst auch Fehler am Steuer.»
Aus diesem Grund rät sie zur Vorsicht und einem defensiven Fahrstil: «Es kann ja sein, dass die Person in die falsche Richtung blinkt. Oder noch vom vorherigen Abbiegen blinkt.» Und solche Fehler sind nur die eine Hälfte. «Wir wissen nicht, wie viele Menschen auf der Strasse fahren, die nicht gut sehen, die krank sind, von 30-Stunden-Schicht übermüdet nach Hause fahren oder aus irgendeinem Grund gar nicht fahrfähig sind. Deshalb verlasse ich mich nur auf mich.»
Regeln müssten alle einhalten
Ganz ohne Vertrauen geht es im Strassenverkehr aber nicht. Und tatsächlich achtet die Mehrheit der Verkehrsteilnehmenden auf die geltenden Gesetze. «Untersuchungen der Beratungsstelle für Unfallverhütung BfU zeigen, dass sich 85 Prozent der Autofahrenden an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten», erklärt Wunsch. Nur diese 85 Prozent sind nicht das Problem, sondern die restlichen 15 Prozent. «Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass es eben nicht alle tun.»
Unterschiedliche Voraussetzungen
Entsprechend kann zu viel Vertrauen auch eine falsche Sicherheit vermitteln. Als Beispiel dafür nennt die Verkehrspsychologin Kinder. «Sie sind gewohnt, dass Erwachsene auf sie aufpassen. Deshalb gehen sie im Verkehr auch davon aus.» Nur haben die Menschen im Auto eine andere Erwartungshaltung, führt Wunsch aus. «Die Erwachsenen am Steuer vertrauen darauf, dass die Eltern den Kindern beigebracht haben, auf dem Trottoir zu bleiben und nicht einfach auf die Strasse zu laufen. Das passt nicht zusammen.» Deshalb lerne man schon in der Fahrschule, rund um Kinder Bremsbereitschaft zu erstellen. Oder anders gesagt: «Es wird einem beigebracht, nicht zu vertrauensvoll zu sein», fasst Wunsch zusammen.
Den Menschen falle es schwer, einander zu vertrauen, erklärt die Verkehrspsychologin weiter. Entweder weil das Vertrauen verletzt wurde oder weil wir zu viel wissen, erklärt die Verkehrspsychologin. «Je besser man sich in einem Thema auskennt, desto schwieriger wird es, zu vertrauen.»
«Die anderen können nicht fahren»
Ein weiterer Grund, wieso Charlotte Wunsch im Strassenverkehr eher auf Eigenverantwortung setzt, liegt daran, dass Autofahrende kaum kontrolliert werden.
«Abgesehen von einigen Geschwindigkeits- und Polizeikontrollen haben wir auf der Strasse quasi Narrenfreiheit», erklärt sie. Deshalb hat Charlotte Wunsch ihren Kindern einen Rat mitgegeben, als diese lernten, Auto zu fahren. «Vorsicht ist besser als Vertrauen. Geht immer davon aus, dass die anderen nicht fahren können.»

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