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Verkehr •
Psychologe zum Konflikt zwischen Auto- und Velofahrenden

«Der Verkehr dient als Aggressions-Ventil»

Immer wieder kommt es auf der Strasse zwischen Autos und Velos zu brenzligen Situationen. Woran das liegt, dass diese zwei Verkehrsgruppen aneinandergeraten, und was den Konflikt entschärfen könnte – STREETLIFE hat bei einem Verkehrstherapeuten nachgefragt.

Dichtes Auffahren, exzessives Gehupe, unmissverständliche Fingergesten, waghalsige Manöver, abruptes Bremsen oder bewusste Verkehrsregelbrüche – die Strasse ist der Wilde Westen der Schweiz. Besonders zwei Verkehrsgruppen haben es aufeinander abgesehen. Auf dem Sattel und hinter dem Steuer bieten sich Velos und Autos jeden Tag aufs Neue intensive Duelle. 

Welche Ausmasse dieser Konflikt annehmen kann, zeigte sich Anfang August auf den Strassen Zürichs. Nachdem ein Velofahrer sein Auto touchierte, verfolgte ihn der 29-jährige Autofahrer im Kreis 10 und fuhr den 42-Jährigen auf dem Trottoir an. Dabei verletzte sich der Velofahrer mittelschwer am Arm. Gleichentags kam es zu einer weiteren Auseinandersetzung auf zwei beziehungsweise vier Rädern. Im Kreis 4 stritten sich ein Velofahrer und ein Lieferwagenlenker. Nach dem Gezanke fuhr der 47-Jährige mit dem Velo davon. Der Lieferwagen verfolgte ihn, woraufhin der Velofahrer stürzte und sich leicht verletzte.  

Zu wenig Platz 

Wie oft es zu solchen Vorfällen in der grössten Schweizer Stadt kommt, ist nicht bekannt. Auf Anfrage bei der Stadtpolizei Zürich teilt diese mit, dass keine Statistik zu Zusammenstössen zwischen Velo- und Autofahrenden geführt werde. Aufgrund der fehlenden Zahlen lässt sich auch keine Tendenz feststellen. Massnahmen wie Velovorzugsrouten zeigen jedoch, dass die Limmatstadt vermehrt versucht, die beiden Verkehrsmittel voneinander zu trennen – wenn nicht sogar den motorisierten Individualverkehr unter dem Deckmantel der Sicherheit vollständig aus der Stadt zu verdrängen. 

Mit diesem Lösungsansatz stehen die Städte aber unmittelbar vor dem nächsten Problem: dem Platz. Das stellt auch Verkehrstherapeut Urs Gerber fest: «Die Innenstädte sind verbaut und es ist nicht genügend Platz für separate Velospuren vorgesehen.» Velos und Autos müssten sich teilweise denselben Strassenraum teilen, seien jedoch in verschiedenen Geschwindigkeiten und mit unterschiedlichem Raumbedarf unterwegs. «Dieser Mischverkehr führt oft zu brenzligen Situationen und zu Problemen», erklärt Gerber. 

Der Verkehr nimmt zu 

Die beengten Platzverhältnisse auf der Strasse dürften sich so schnell nicht ändern. Ganz im Gegenteil. Der Platzbedarf nimmt eher noch zu. Denn: Das Velo erfreut sich immer grösserer Beliebtheit – insbesondere das strombetriebene. So zeigt die letztjährige Statistik von Velo Suisse, dem Verband der Schweizer Velolieferanten, einen erneut deutlichen Anstieg bei den E-Bike-Verkäufen. 17 Prozent mehr elektrisch unterstützte Velos gingen im Vergleich zum Vorjahr über die Ladentheke. Das entspricht dem neuen Rekordhoch von 218’730 Stück. 

Diese Wende in der Mobilität lässt sich gemäss Gerber mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in Richtung Ökologie begründen. «In den Innenstädten gewinnt der Langsamverkehr mit Fussgängern und Fahrradfahrenden an Bedeutung.» Die Folge davon: Wenn sich immer mehr Menschen mit dem Velo bewegen, verschärft sich der Konkurrenzkampf auf der Strasse unter den Verkehrsteilnehmenden. 

Feind statt Mitmensch 

Wie die zwei Beispiele aus Zürich zeigen, kann es dabei auch zur Eskalation kommen. Doch nicht nur aggressive Persönlichkeiten würden gelegentlich gereizt reagieren, sagt der Verkehrstherapeut. «Bei Konflikten handelt sich häufig um eine Verkettung von schwierigen Umständen: Beispielsweise muss jemand sein Kind mit dem Auto abholen, lange an einem Lichtsignal warten und dann noch wegen eines Velofahrers abbremsen.» Dies werde dann als Schikane erlebt und lasse negative Gefühle aufstauen. «Im schlechtesten Fall wird in einer komplexen Situation der andere Verkehrsteilnehmer als Feind gesehen und nicht als Mitmensch, der auch an sein Ziel kommen will.» 

Moralische Überlegenheit 

Der Verkehr diene dann als Ventil, um aufgestaute Aggressionen auszuleben. Aber auch Stress spielt eine grosse Rolle. So meint Gerber, dass viele im Verkehr glauben würden, Zeit sparen zu können. «Die Leute sind deshalb wegen Sekundenbruchteilen gestresst und fühlen sich um ihre vermeintlichen Vorrechte betrogen.» Dies sei eine problematische psychologische Haltung im Umgang mit anderen Menschen generell und insbesondere im Verkehr, sagt er. Apropos Vorrechte: Würden Velofahrer diese beanspruchen, obwohl sie ihnen verkehrsrechtlich nicht zuständen, werde es schwierig. Wieso es überhaupt dazu kommt? «Es gibt einzelne Velofahrer, die sich aus ökologischen Gründen den Autofahrenden moralisch überlegen fühlen», antwortet Gerber. 

Es gibt einzelne Velofahrer, die sich aus ökologischen Gründen den Autofahrenden moralisch überlegen fühlen.

Urs Gerber, Verkehrstherapeut

Egal, ob auf zwei oder vier Rädern: Die Fronten scheinen verhärtet. Doch was genau bräuchte es gemäss Gerber, damit die zwei Lager trotzdem das Kriegsbeil begraben könnten? Das Zauberwort lautet: Fairness. «Es wäre die einfachste und rascheste Lösung, wenn sich alle im Verkehr darum bemühen würden», ist er überzeugt. Es müsse gesellschaftlich Einigkeit darüber bestehen, dass auf die schwächeren Teilnehmenden des Verkehrs Rücksicht genommen werde: Autofahrende auf Fahrradfahrende und Fussgänger, Fahrradfahrende auf Fussgänger. 

«Würden alle zudem mit mehr Gelassenheit im Verkehr unterwegs sein, wären alle zufriedener», meint Gerber. Es gäbe doch nichts Schöneres, als einem Fussgänger, Fahrradfahrer oder Automobilisten zuzuwinken und ihm den Vortritt zu überlassen, egal ob man mit dem Auto, Fahrrad oder zu Fuss unterwegs sei. Das gebe gute Laune und schaffe eine angenehme Atmosphäre im Verkehr. «So fördern wir die Freundlichkeit und nicht den Kampf im öffentlichen Raum.» 

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