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Das Auto als Sündenbock? Das sagt die Politik
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwingt die Schweiz zu mehr Klimaschutz. Ein ETH-Professor hat einen der Hauptschuldigen ausgemacht – das Auto. Diese Einschätzung trifft in der Politik nicht nur auf Gegenliebe.
Dieses Urteil sorgt für rote Köpfe: Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird die Schweizer Bevölkerung zu wenig vor den Folgen des Klimawandels geschützt. Zu diesem Urteil kommt das Gericht, nachdem die sogenannten «Klimaseniorinnen» in Strassburg geklagt hatten.
Die Schweiz muss deshalb mehr für den Klimaschutz machen. Doch was hilft wirklich, um die CO2-Emissionen einzudämmen? Das hat die Pendlerzeitung «20 Minuten» den ETH-Professoren Reto Knutti gefragt und seine Aussagen unter dem Titel «Weniger Fleisch und Autos» publiziert.
Das Auto als Sündenbock
Das Auto einmal mehr als Sündenbock? Auf Nachfrage von STREETLIFE relativiert Knutti seine Aussage. Er habe sicher keine Empfehlung abgegeben, wie Menschen in der Schweiz leben sollen, so der ETH-Professor. Aber: «Dass in der Schweiz die Mobilität auf der Strasse mit circa 25 Prozent der grössten Treiber von CO2-Emissionen ist, dahinter stehe ich. Denn das ist ein Fakt, die Zahlen lassen sich messen».
Er wolle den Autofahrerinnen und Autofahrer auch nicht den Spass an ihren Fahrzeugen verderben. Aber: «Ganz ohne Veränderungen wird es nicht gehen. Viele leben im Gefühl, ein Anrecht auf gewisse Dinge zu haben, die unserem Klima schaden. Das müssen wir in Zukunft sicher hinterfragen.»
Das Auto verbieten will Knutti also nicht. Dennoch stossen seine Einschätzungen nicht nur auf Gegenliebe. SVP-Politiker Mike Egger etwa findet nicht nur das Urteil aus Strassburg daneben («lächerlich!»). Auch zum Bild der Schweiz als Klimasünderin hat er eine klare Haltung: «Die Schweiz ist auf einem sehr guten Weg. Das beweisen zahlreiche Statistiken, die Herr Knutti auch analysieren könnte. Nämlich, dass die Treibhausgasemissionen seit 1990 massiv reduziert werden konnten. Pro Kopf um über 37 Prozent». Mit diesem Wert sei die Schweiz eines der wenigen Industrieländer, das die Zwischenziele der Pariser Klimaziele erreichen würde.
Auch andere Gründe berücksichtigen
Auch im Bereich des Erdölverbrauchs resultiere in den letzten 20 Jahren eine deutliche Reduktion, so Egger. «Das zeigt, dass wir in der Schweiz dank Innovationen, dank wirtschaftlichem Fortschritt und dank unserem Wohlstand wahrscheinlich die richtigen Massnahmen getroffen haben, um die Umweltbilanz der Schweiz deutlich zu verbessern.»
Der SVP-Mann bestreitet nicht, dass die Mobilität für viel CO2 sorgt. Aber er pocht darauf, die Gründe in einem grösseren Kontext zu sehen: Grundsätzlich solle man auch das Bevölkerungswachstum in der Schweiz einbeziehen, sagt Egger. Die Schweiz sei in den letzten 20 Jahren 16 mal schneller gewachsen als das Nachbarland Deutschland. Sogar in absoluten Zahlen sei die Schweiz stärker gewachsen. «Mehr und mehr Menschen – und das kann auch Herr Knutti nicht wegdiskutieren – verursachen mehr Emissionen, mehr Stromverbrauch, mehr Staustunden oder ganz einfach gesagt: mehr Ressourcenverbrauch.. Das muss man einfach berücksichtigen, sonst kann man keine Zielsetzungen erreichen.»
Zuspruch von links
Doch nicht alle sehen die Aussagen des ETH-Professoren so kritisch. Zuspruch erhält Knutti etwa von Grünen-Politikerin Marionna Schlatter (Zürich). Man habe es in der Schweiz tatsächlich verpasst, griffige Massnahmen einzuführen, die das Klima besser schützen, so die Soziologin gegenüber STREETLIFE.
«Ich spreche etwa von einem Verbrennerverbot, wie das in anderen Ländern bereits geplant ist», so Schlatter. Bei diesem Thema gelte für sie: je schneller das Verbot kommt, desto besser. Es gehe dabei nicht darum, das Auto zum Sündenbock zu machen. Aber: «Wir haben ein Problem, und das müssen wir lösen». Zudem gäbe es bereits viele attraktive Alternativen, auch wenn diese vielleicht noch nicht alle vollends ausgereift seien. Schlatter: «Strassburg hat quasi offiziell gesagt, dass die Schweiz in Sachen Klimaschutz zu wenig macht. Ich finde das gut, denn das entspricht auch meiner Meinung.»
Etwas differenzierter sieht das Barbara Schaffner von den Grünliberalen (ZH). Strassburg habe wohl gar nicht anders gekonnt, als Klimafolgen als Gefahr für die Gesundheit anzuerkennen, sagt die Nationalrätin. «Das begrüsse ich zwar grundsätzlich – ich sehe aber auch die Diskussionen, die ein solches Urteil in der Schweiz auslöst. Vom Timing her ist das sicher nicht ganz glücklich», so die Politikerin in Anspielung auf die anstehenden EU-Verhandlungen.
Bleibt die Frage, was das Klima-Urteil in der Schweiz effektiv auslöst. Mike Egger beantwortet diese Frage mit einer provokanten Gegenfrage: «Keine Ahnung. Aber was wäre, wenn wir das alles einfach zur Kenntnis nehmen – und damit hat es sich?»
So oder so – das Urteil aus Strassburg dürfte in den nächsten Wochen noch viel zu diskutieren geben. Nicht nur in der Politik, sondernauch auf der Strasse.
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