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«Selbstjustiz führt nur zu mehr Aggression»
Ein plötzliches Hupen, ein riskantes Überholmanöver und schon kocht die Wut hinterm Steuer hoch. Sich auf der Strasse nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, ist manchmal schwer. Gianclaudio Casutt, Fachpsychologe für Verkehrspsychologie, erklärt, welche Mechanismen hinter aggressivem Fahrverhalten stecken.
Herr Casutt, welche Faktoren begünstigen Aggression im Strassenverkehr?
Aggression wird häufig durch Stress ausgelöst, und Stress entsteht im Strassenverkehr durch verschiedene externe Umstände. Staus, Zeitdruck und das wachsende Verkehrsaufkommen erhöhen die Anspannung. Im Jahr 2000 hatten wir 8’000 Staustunden pro Jahr in der Schweiz, 2019 waren es bereits 30’000. Man könnte also durchaus die Hypothese aufstellen, dass Aggression im Strassenverkehr zunimmt, weil die Staustunden zunehmen.
Gibt es noch andere Faktoren?
Immer aggressiver und lautere Fahrzeugmodelle und neue Verkehrsmittel wie E-Scooter können zu Konflikten führen. Digitale Navigationssysteme, die zwar hilfreich sind, aber auch Stress erzeugen können, wenn man sich darauf verlässt und etwas schiefgeht, was sich wiederum sich in Aggression umwandeln kann. Auch die zunehmende Mobilität insgesamt führt dazu, dass viele Menschen gleichzeitig unterwegs sind, was das Risiko für Konflikte und aggressive Reaktionen erhöht. Im Strassenverkehr haben wir in den vergangen 20 Jahren eine 40-prozentige-Zunahme bei den Fahrzeugzulassungen. Aber auch im Zug oder Bus wird es immer enger, weil mehr Menschen pendeln.
Wie definieren Sie aggressives Fahrverhalten?
Aggression ist nicht einfach nur lautes Schreien oder körperliche Gewalt. Sie kann sich subtiler äussern, etwa durch rücksichtsloses Beschleunigen, das Ignorieren von Verkehrsregeln oder absichtlich provozierendes Verhalten wie dichtes Auffahren. Aus Sicht der Verkehrspsychologie umfasst Aggression also sowohl direkte Bedrohungen als auch Verhaltensweisen, die andere gefährden oder einschüchtern können. Entscheidend ist der Kontext, in dem das Verhalten stattfindet, und die Wirkung auf andere Verkehrsteilnehmer.
Sehen Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit eine Zunahme von Aggressionen im Strassenverkehr?
Wenn Aggressionen auftreten, sind diese oft sehr ausgeprägt. Dazu gehören Schikane-Stopps, verbale Drohungen, aber manchmal auch körperliche Aggressionen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern. Solche extremen Fälle sind zwar selten, aber sehr auffällig.
Was raten Sie Autofahrenden die merken, dass ihnen im Verkehr regelmässig die Emotionen durchgehen?
Selbstregulation ist entscheidend. Wenn man im Stau steht, sollte man sich bewusst machen, dass die Ursache oft ein Unfall ist, bei dem andere Menschen verletzt sein könnten oder mit Schäden kämpfen. Anstatt sich zu ärgern, sollte man versuchen, sich in ihre Lage zu versetzen. Ausserdem kann es hilfreich sein, Mitfahrer über Verspätungen zu informieren. Geteilter Ärger ist manchmal halber Ärger.
Sie appellieren also ein wenig auf Empathie…
Genau, man sollte nicht davon ausgehen, dass man automatisch im Recht ist, nur weil die eigene Perspektive im Vordergrund steht. Verkehrsregeln gelten für alle gleichermassen, aber jeder Mensch hat seine eigenen Bedürfnisse. Deshalb ist es wichtig, sich zurückzunehmen und den Bedürfnissen der anderen im Strassenverkehr ebenfalls Raum zu geben. Es ist abgesehen davon auch wichtig zu erwähnen, dass jeder Lenker Pflichten und nicht nur die Rechte basierend auf den Gesetzen beachten muss. So gilt in Art. 26. SVG. 'dass sich jeder Verkehrsteilnehmer so verhalten muss, dass er andere nicht behindert oder gefährdet. Dies gilt für alle Strassenbenutzer, wobei besondere Vorsicht bei Kindern, Gebrechlichen und alten Menschen sowie bei Anzeichen für Fehlverhalten anderer geboten ist.’
Selbstjustiz ist keine Lösung?
Man sollte Verkehrsregeln nicht selbst brechen, nur weil man glaubt, ein anderer habe einen Fehler gemacht. Vielleicht hat der andere Fahrer den Fehler nicht extra gemacht oder einfach übersehen. Selbstjustiz ist nie gerechtfertigt, Strafverfolgung ist immer Aufgabe der Polizei. Solches Verhalten steigert nur Aggressionen und gefährdet die Sicherheit im Strassenverkehr.
Welche Rolle spielen generell Emotionen beim Fahren?
Zwei Emotionen haben beim Fahren einen sehr hohen Stellenwert. Zum einen sind das Stress und Aggression, die dazu führen können, dass Menschen riskanter fahren oder impulsiv auf Provokationen reagieren. Zum anderen stechen auch positive Emotionen heraus, wie Freude am Fahren oder das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Diese Emotionen fördern in vielen Fällen die Aufmerksamkeit und das sichere Verhalten, können aber auch das Gegenteil bewirken.
Inwiefern?
Ich störe mich immer ein wenig an der Assoziation, dass das Autofahren mit dem Freiheitsgefühl verbunden wird: Man selbst entscheidet, wann man fährt, wohin man fährt und wann man Pausen macht. Insofern ist man in gewissem Sinne schon freier, verglichen mit einem Zugfahrplan. Doch der Strassenverkehr ist notwendigerweise stark reglementiert, viele Pflichten müssen eingehalten werden, sodass «Freiheit» hier eigentlich eine falsche Assoziation ist. Manche Menschen können aus diesem Freiheitsgefühl problematisches Verhalten ableiten, weil sie sich nicht einschränken lassen wollen oder vergessen, Rücksicht auf andere zu nehmen.

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