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Im Beifahrersitz des Unzerstörbaren
Clay Regazzoni ist der erfolgreichste Schweizer Formel-1-Fahrer. Gleichzeitig hat er nach seinem schweren Unfall viel für die Interessen von Menschen im Rollstuhl getan. Erstmals beleuchtet ein deutschsprachiges Buch die beiden Facetten im Leben der Rennsportlegende.
Monza am 6. September 1970. Die italienischen Tifosi feiern einen Schweizer. Der Tessiner Clay Regazzoni (geboren Gian-Claudio Giuseppe) gewinnt auf einem Ferrari das Formel-1-Rennen in Italien. Es ist sein erster Sieg nach erst fünf Rennen. Die Fans stürmen die Rennstrecke und die Menge wirft den Schweizer vor Ekstase in die Luft. Später bezeichnet Regazzoni diesen Moment in der jubelenden Menge als den einzigen in seinem Leben, in dem er wahrlich Angst empfunden hätte.
Eindrücklich, wenn man bedenkt, dass es im Leben eines Rennfahrers mehr als genug Gelegenheiten gibt, um Angst zu empfinden. Doch Clay Regazzoni dachte selten darüber nach, was hätte sein können, sondern machte das Beste aus der jeweiligen Situation. Wie prägend diese Eigenschaft für den Menschen Clay Regazzoni war, zeigte sich 1980. Beim Grossen Preis der USA West in Long Beach verunfallt der Schweizer schwer. Er zieht sich mehrere Knochenbrüche sowie Verletzungen an der Wirbelsäule zu. Später wird er ins Paraplegikerzentrum Basel gebracht, doch die Ärzte können an der Diagnose nichts ändern. Regazzoni ist querschnittsgelähmt und seine Formel-1-Karriere beendet.
Die Wiedergeburt
«Ich blieb sechs Monate in Basel, und es war eine Art Neugeburt, denn ich musste das Leben nun anders anpacken und vor allem aus einer veränderten Lage.» So beschreibt Clay Regazzoni den Anfang seines zweiten Lebens, nachzulesen in der neuen Biografie über ihn mit dem einprägsamen Titel «Der Unzerstörbare». Diesen Spitznamen gaben ihm englische Journalisten, weil der Tessiner schon vor Long Beach viele Unfälle ohne grosse Verletzungen überstanden hatte, aber auch wegen seines unbeugsamen Durchhaltewillens.
Mit Regazzonis Augen
Es handelt sich dabei gleichzeitig um das erste deutschsprachige Buch über den bisher erfolgreichsten Schweizer Formel-1-Piloten sowie die Neuauflage einer italienischsprachigen Biografie aus dem Jahre 1982. Diese hatte Regazzoni damals mithilfe des Journalisten Cesare De Agostini verfasst, wodurch sie einen tiefen und persönlichen Einblick in die Psyche des Rennfahrers gibt.
Die Leserschaft fühlt sich wie auf Regazzonis Beifahrersitz, während dieser auf seine abwechslungsreiche F1-Karriere zurückblickt und den schwierigen Weg nach dem Unfall zurück ins Leben beschreibt. «Während über dreissig Jahren drehten sich meine Gesprächsinhalte vornehmlich um Autos, in Basel habe ich aber bald gelernt, von Rollstühlen zu reden, weil sie noch wichtiger waren als die Beine», schreibt Regazzoni über das wahrscheinlich wichtigste Fortbewegungsmittel in seinem Leben. «Wer gesunde Beine hat, benützt sie und denkt nicht daran; um den Rollstuhl muss man sich aber immer kümmern, will er zur Verlängerung des Körpers wird.»
Kein Zurück!
Obwohl Regazzoni immer wieder versuchte, mit Operationen und hartem Training seine Beweglichkeit zurückzugewinnen, verbitterte er nie. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er nach seinem Unfall 1980 nicht ins F1-Cockpit zurückdurfte. Der Schweizer Paul Gutjahr war damals Sportkommissar der Formel 1 und erinnert sich: «Clay kämpfte nach dem Unfall mit Enthusiasmus und Energie für sein Recht zu fahren.» Aber Gutjahr konnte ihm nicht helfen. Das Problem war nicht die Technik, denn mit einer Handgasvorrichtung konnten querschnittsgelähmte Personen schon damals Auto fahren. Aber das Reglement erlaubte Regazzoni die Rückkehr in die Königsklasse des Motorsportes nicht. Dieses verlangte, dass Piloten den Rennwagen schnell aus eigener Kraft verlassen können – das konnte der Tessiner nicht mehr …
So blieb es bei 132 Grand-Prix-Teilnahmen, davon über die Hälfte für Ferrari, fünf Siegen, darunter der erste Sieg überhaupt für das Williams-Team, 28 Podestplätzen und dem Vize-Weltmeistertitel im Jahr 1974. Regazzoni war es auch, der den Österreicher und späteren Weltmeister Niki Lauda zu Ferrari holte. Sie waren Teamkollegen, als Lauda seinen Feuerunfall auf dem Nürburgring hatte und als dieser nur ein Jahr später seinen zweiten Weltmeistertitel gewann. Regazzoni fuhr zu einer der gefährlichsten Epochen überhaupt in der Formel 1. Am Vortag seines ersten Rennsiegs verunglückte der Deutsche Jochen Rindt tödlich – und das ist leider nur ein Beispiel. Trotz all dieser Schicksalsschläge – nicht einmal wegen seines eigenen Unfalls – war er kein grosser Freund von Sicherheitsmassnahmen. Der Tessiner beschreibt in seiner Biografie, wie er seinem Sohn seine Leidenschaft für die Formel 1 erklären würde:
«Der Ehrlichkeit halber würde ich ihm aber sagen, dass es bei Rennen nicht nur Unfälle gibt, sie sind sogar die Ausnahme, ein schwarzer Punkt inmitten einer Woge herrlicher Gefühle. Als ich zum Beispiel die Kurven von Monza fuhr, ich meine damit die ‹echte› Strecke von Monza, nicht die von den Varianten zerstörte Strecke, die es erlaubte, mit fast 300 Sachen in die grossen Kurven hineinzufahren. Nach jeder Runde entstand eine Spannung, weil die Einfahrt in die Kurve perfekt sein musste. Als ich merkte, dass die Maschine den kritischen Moment überstanden hatte … wurde die Fahrt zum reinen Vergnügen.»
Auch als er später als Experte Rennen fürs italienische Fernsehen RAI kommentierte, kritisierte er die modernen Rennstrecken mit ihren grossen Auslaufzonen. Der Unfall in Long Beach hat vielleicht Regazzonis Rücken gebrochen, nicht aber seine Meinung zum Motorsport und erst recht nicht seinen Willen. Das war nicht einfach. «Leben oder überleben, diese Frage stellt sich Clay nicht», heisst es im Buch. Leben hiess für Regazzoni Rennen fahren und dies tat er auch nach seinem Unfall weiter. Unter anderem startete er mehrmals an der Rallye Paris-Dakar oder fuhr 2004 den GP Tunis sowie die Tour de Espana.
Die zweite Karriere
Das Recht, wieder Rennen fahren zu dürfen, musste sich Regazzoni hart erarbeiten und teilweise sogar erstreiten. Gleichzeitig liess es ihn aber auch ausserhalb des Motorsports für die Rechte und Anliegen von Menschen mit eingeschränkter Mobilität kämpfen. Der Tessiner pflegte zu sagen: «Der Unfall muss einen Grund gehabt haben, nämlich den, eine Mission zu erfüllen! Ich bin eine in der Öffentlichkeit stehende Person und möchte ein Vorbild sein und zeigen, dass man trotz des Rollstuhls sehr gut leben kann.» Das gelingt Regazzoni. Er startet ein zweites Leben, eine zweite Karriere und ist heute, 16 Jahre nach seinem Tod, ein Idol für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Einer davon ist der Thurgauer Mitte-Nationalrat Christian Lohr, der ohne Arme und missgebildete Beinen zur Welt kam. Bei der Vernissage zur Biografie erzählte der Politiker, welchen Einfluss der Rennfahrer auf sein Leben hatte: «Clay Regazzoni hat anderen Menschen Mut gemacht und gezeigt, dass das Leben auch nach einer Querschnittslähmung weitergeht.» Noch wichtiger war für Lohr aber etwas anderes: «Wie er für Menschen mit Behinderungen gekämpft hat – auch gegen die Behörden. Das hat für mich das Bild von Clay abgerundet.» Der Mitte-Nationalrat bedauert, dass er Regazzoni nicht persönlich kennenlernen konnte, um ihm zu danken. Er holte dies an der Vernissage nach: «Danke, dass du weitergekämpft und dich eingesetzt hast. Du bleibst eine Legende.»
Diesen Kampf für Menschen mit Beeinträchtigungen setzt Regazzonis Familie fort, erzählt seine Tochter Alessia: «Wir führen sein Erbe weiter. In allen Belangen.» Das Buch endet mit einem Epilog seiner Enkelin Sofia Maria Giorgetti, wie sie sich am Steuer eines Formel-4-Rennautos probiert. «Diese Leben am Limit wollte ich auch spüren», schreibt Regazzonis Enkelin. «Glücklich über diese Erfahrung verliess ich die Rennstrecke Paul Ricard und behielt für mich jenes geheimnisvolle «Tête-à-Tête» mit meinem Grossvater.» Ob die Teenagerin in die Fussstapfen ihres Grossvaters tritt und Rennfahrerin wird, lässt sie offen. Clay Regazzoni würde sie kaum abhalten.
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