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Das Auto wird zum Büro – Experten schlagen Alarm
Videocalls auf der Autobahn, Chatnachrichten am Steuer, Kalender direkt auf dem Touchscreen: Mit dem neuen CLA will Mercedes den Fahrersitz zum «dritten Arbeitsplatz» machen. Der TCS warnt: Mehr digitale Freiheit bedeutet auch mehr Ablenkung – und die kann brandgefährlich werden.
Wir sind immer online – bald auch hinter dem Lenkrad. Denn: Mercedes-Benz geht einen Schritt, den bisher kaum ein Hersteller gewagt hat und stattet den neuen CLA mit Microsoft Teams und dem KI-Assistenten Copilot direkt im Bordsystem aus. Das heisst: Auf dem grossen Zentraldisplay können Autofahrende Termine sehen, mit einem Fingertipp Meetings beitreten und/oder über Sprachbefehle auf Chatnachrichten reagieren. In bestimmten Ländern darf sogar die Innenraumkamera während der Fahrt das Bild des Fahrers live ins Videomeeting übertragen.
Noch ist der neue CLA mit der Microsoft-Integration nicht auf der Strasse – doch die Diskussion ist bereits entfacht. Während Tech-Enthusiasten das Konzept als zeitgemässe Innovation feiern, warnen Datenschützer und Psychologen vor einem gefährlichen Spagat zwischen Effizienzgewinn und digitalem Dauerstress.
Kommt dazu: Mercedes stösst mit dieser Partnerschaft eine Tür auf, durch die andere Marken bald folgen dürften. BMW testet bereits ähnliche Systeme mit Google-Diensten, Audi arbeitet mit Amazon Web Services zusammen. Das Auto der Zukunft ist digital, vernetzt – und ständig online. Die entscheidende Frage dabei ist: Wie viel digitale Nähe wollen wir in einem Raum, der früher für viele als Zufluchtsort vor dem Büro galt? Und was bedeutet das für die Sicherheit unterwegs?
Für Experte Erich Schwizer vom TCS ist der Fall klar: «Ein Auto sollte grundsätzlich nicht zur Fortsetzung des Büros werden, das einem erlaubt, immer online zu sein. Die Aufmerksamkeit muss auf das Geschehen auf der Strasse gerichtet bleiben. Denn der Fahrer trägt die Verantwortung für sein Auto und sein Handeln.» Das Risiko, so Schwizer, sei nicht nur physische Ablenkung – etwa durch Tippen oder Blickwechsel –, sondern vor allem geistige. «Die mentale Ablenkung kann je nach Situation und Thema des Gesprächs erheblich sein.» Wer beispielsweise über eine heikle Vertragsfrage diskutiert, denkt nicht mehr in erster Linie an den fliessenden Verkehr.
Die Kamera selbst sieht der TCS-Experte nur bedingt kritisch: Der Blick bleibt auf der Strasse, die Hände am Lenkrad. Aber: «Es ist möglich, dass ein Fahrer im Verlauf eines Videomeetings nahezu vergisst, dass die Kamera läuft.» Bei langen Chatnachrichten hört hingegen das Verständnis auf: Alles, was mehr als eine Sekunde Lesedauer braucht, ist für den Strassenverkehr ungeeignet.
Technik mit Tücken
Mercedes wirbt damit, dass die Bedienung «intuitiv» und «sicherheitsoptimiert» sei. Schwizer stimmt dem teilweise zu – sieht aber Verbesserungsbedarf. «So wie es dargestellt ist, ist das Betreten eines Meetings mit einem grossen Touchfeld unproblematisch. Aber viele moderne Autos haben zu kleine Schriftgrössen und Bedienelemente. Doppelt so grosse Tasten wären leichter zu treffen.»
Juristisch ist der Rahmen klar. Artikel 3 der Verkehrsregelnverordnung schreibt vor, dass der Fahrzeugführer seine Aufmerksamkeit jederzeit auf Strasse und Verkehr richten muss. Kommunikations- und Informationssysteme dürfen diese Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigen. «Das ist eindeutig geregelt», betont der Experte. Allerdings: Technik verführt. Gerade unter Zeitdruck kommt es vor, dass Fahrerinnen und Fahrer oft ihre eigenen Sicherheitsgrenzen überschreiten. Die Gefahr: Die ständige Erreichbarkeit im Job macht es schwer, ein Meeting abzulehnen – selbst wenn man weiss, dass es riskant ist.
Grünes Licht nur für automatisierte Systeme
Einen Freifahrtschein sieht der TCS deshalb nur bei «bedingt automatisierten» oder hochautomatisierten Fahrzeugen. Systeme wie ein Staupilot nach SAE-Level 3 erlauben es, die Hände vom Lenkrad zu nehmen und die Aufmerksamkeit für begrenzte Zeit vom Verkehr abzuwenden – im klar definierten Einsatzbereich. «In diesem Modus ist ein Meeting unproblematisch», sagt Schwizer.
Die Schweiz hat automatisiertes Fahren seit dem 1. März 2025 gesetzlich freigegeben. Praktisch ist das Thema aber noch Zukunftsmusik: Fahrzeuge mit entsprechender Technik sind hierzulande (noch) nicht erhältlich. Dass mit der Microsoft-Integration sensible Firmendaten ins Auto wandern, sieht der TCS nicht als primäres Problem – solange klare Regeln gelten. «Um die Möglichkeiten im Mercedes zu nutzen, braucht es offenbar auch die Zustimmung der IT des Arbeitgebers», erklärt Schwizer. Werden Datenschutzgesetze eingehalten und der Fahrer stimmt zu, sei der Betrieb unkritisch.
Alter Trend in neuem Gewand
Trotzdem wirft der Schritt Fragen auf: Wie sehr verschwimmen etwa private Fahrten und berufliche Kommunikation, wenn das Cockpit zum Konferenzraum wird? Dass das Auto als Arbeitsplatz genutzt wird, ist nicht neu. Aussendienstmitarbeitende und Selbstständige arbeiten schon lange unterwegs – meist mit Telefon, Laptop und Papierstapel, oft im geparkten Fahrzeug. Neu ist, dass Technik diese Arbeit direkt in den fliessenden Verkehr bringt.
Dazu sagt der Experte: «Steht das Auto abseits vom Verkehr oder fährt es in Zukunft automatisiert, spricht nichts dagegen», sagt Schwizer. Wer selber fahre, solle das Meeting aber lieber verschieben oder in der Pause führen. Während also Mercedes die Integration als Komfortfunktion für moderne Berufspendler verkauft, sieht der TCS eine weitere Versuchung, das Multitasking am Steuer auszureizen.
Am Ende bleibt die Frage, ob wir wirklich jeden Winkel unseres Alltags vernetzen müssen. Was als Komfort für gestresste Pendler verkauft wird, kann schnell zum Türöffner für gefährliche Gewohnheiten werden. Und vielleicht ist es manchmal der grösste Luxus, den «Join»-Button beim Team-Meeting einfach nicht zu drücken.

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