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Chaos beim Temporegime – müssen es die Gerichte richten?
Sogar auf Autobahnen soll streckenweise Tempo 60 gelten – für den Lärmschutz. Doch ist dieser wirklich das zwingende Argument? Wer hat am Ende das Sagen, die Politik oder die Gerichte? Ein Klärungsversuch.
Der Entscheid liess aufhorchen: Das Bundesverwaltungsgericht verfügt auf einem Autobahnabschnitt in Basel Tempo 60. So schnell – oder vielmehr so langsam – fuhr man früher in Dörfern. Der Fall «Basel» ist allerdings nicht der einzige im Streit um Tempo- oder Spurreduktionen. Für Aufsehen sorgt etwa auch eine Auseinandersetzung zwischen Stadt und Kanton Zürich. Auf der Rosengartenstrasse, der meistbefahrenen innerstädtischen Verkehrsachse, will die links-grüne Stadtregierung Tempo 30 einführen. Der Kanton legte sein Veto ein. Worauf die Stadt wiederum rekurrierte.
Die Befürworter von Temporeduktionen selbst auf National- und Durchgangsstrassen argumentieren mit dem Lärmschutz. Doch das ist nicht das einzige in Betracht kommende Argument. Letztlich geht es um eine Abwägung verschiedener Rechtsgüter. Im Fall der Rosengartenstrasse hielt die zuständige Kantonspolizei fest, Tempo 30 sei aus «rechtlicher sowie aus fachlicher Sicht nicht bewilligungsfähig». Dem Lärmschutz stellte sie die Leistungsfähigkeit dieser zentralen Verkehrsachse sowie deren volkswirtschaftliche Bedeutung entgegen.
Graben zwischen Stadt und Land
Ähnlich verlaufen die Gräben bei der von der Stadt geplanten Spurreduktion auf der Bellerivestrasse am rechten Seeufer. Es handle sich um eine wichtige Durchgangsstrasse von überkommunaler Bedeutung, eine Spurabbau hätte weitreichende Folgen, weit über die Stadt Zürich hinaus, so die Kantonspolizei.
Wir erleben also immer wieder, dass verschiedene Instanzen und Behörden unterschiedliche Ansichten und Ziele bezüglich des Tempos (oder sonstiger Massnahmen) verfolgen. Nachfrage beim Bundesamt für Strassen ASTRA: Wer hat letztlich das Sagen? Welche Güter und Interessen werden wie hoch gewichtet?
«95 Prozent des Netzes lärmtechnisch saniert»
«Sowohl bei Gesamterneuerungs- wie Ausbauprojekten auf den Nationalstrassen ist der Lärmschutz ein integraler Bestandteil», sagte ASTRA-Sprecher Thomas Rohrbach. Das ASTRA wende dabei die geltenden Rechtsnormen an, namentlich das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung. Seit 2008 habe der Bund rund drei Milliarden Franken in Lärmschutzmassnahmen investiert: «95 Prozent des Netzes gelten rechtlich als lärmtechnisch saniert.»
Trotzdem beschreiten Anwohner, häufig angestachelt und unterstützt von der Lobbyorganisation Lärmliga, den Rechtsweg. Der Ablauf ist dabei wie folgt: Projekte, die Lärmschutzmassnahmen enthalten, müssen öffentlich aufgelegt werden und durchlaufen ein dreistufiges Plangenehmigungsverfahren. Erste Instanz für Einsprachen gegen ein Nationalstrassenprojekt ist das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Dieses beurteilt die Einsprachen und erlässt eine Plangenehmigungsverfügung. Gegen diese Verfügung kann beim Bundesverwaltungsgericht rekurriert werden, wie das nun auch in Basel geschehen ist. Letztinstanzlich urteilt das Bundesgericht. Darum sagt Rohrbach: «Letztlich sind es die Gerichte – namentlich Bundesgericht oder Bundesverwaltungsgericht – welche die Geschwindigkeiten im Einzelfall festlegen.»
«Letztlich sind es die Gerichte – namentlich Bundesgericht oder Bundesverwaltungsgericht – welche die Geschwindigkeiten im Einzelfall festlegen.»
SVP plant Vorstoss
Und hier stellt sich dann konkret die Frage, welche Richter auf Basis welcher Einstellungen und möglicherweise auch politischer Prägungen die Entscheide fällen. Wie in anderen Bereichen gilt auch hier: Den Gerichten kommt ein mehr oder weniger grosser Ermessensspielraum zu. Neigen sie eher dazu, die «Gesundheit» (Lärmschutz) oder die volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines Entscheids ins Zentrum zu stellen? Beziehen sie mit ein, dass weniger Lärm auch durch andere Massnahmen erreicht werden könnte? Hegen sie eher Sympathien oder Antipathien für das Auto? Lassen sie in ihr Urteil mit einfliessen, dass Motoren und Beläge hörbar leiser geworden sind? Und schliesslich auch: Wie setzt sich das Richtergremium parteipolitisch zusammen? All dies kann am Ende eine Rolle spielen. Justitia ist nicht blind.
Doch die Politik schläft nicht. Wie STREETLIFE in Erfahrung gebracht hat, dürfte sich auch das Parlament in Bern mit Tempo 60 auf Autobahnen auseinandersetzen. Verkehrspolitiker Christian Imark SVP ist der Ansicht, dass «gut begründbar» sei, dass für Nationalstrassen besondere Regeln gelten. Die SVP bereite derzeit einen Vorstoss vor, der das Interesse eines flüssigen Verkehrs auf diesen Strassen betone. Der Streit um Temporeduktionen und Lärmschutz ist also noch längst nicht vorbei.

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