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Bundesrat soll Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte ignorieren
Der europäische Menschenrechtsgerichtshofs befand im April, die Schweiz unternehme zu wenig gegen den Klimawandel. Nun fordert die Rechtskomission des Ständerats, die Schweiz solle dieses Urteil ignorieren.
Die Rechtskomission des Ständerats hat den Bundesrat in einer Erklärung dazu aufgefordert, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR zu ignorieren. Das berichtete der «Tages-Anzeiger» gestern. Das Urteil wurde im April im Strassburg gesprochen und wirft der Schweiz vor, zu wenig gegen den Klimawandel zu unternehmen. Im Schreiben der Komission heisst es, die Landesregierung solle dem Europarat mitteilen, dass «die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April Folge zu leisten».
Das Urteil stammt aus einer Klage der sogenannten Klimaseniorinnen. Diese hatten die Massnahmen der Schweiz im Kampf gegen den Klimawandel als ungenügend taxiert. Der Gerichtshof gab ihnen recht und befand, die Schweiz käme ihren Aufgaben beim Klimaschutz nicht gebührend nach. In der Erklärung kritisiert die Kommission diesen Entscheid scharf und wirft dem EGMR vor, «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus» zu betreiben. Das Urteil überschreite «die Grenzen der dynamischen Auslegung». Die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung würden «überstrapaziert».
Dennoch: Die Kommission anerkennt in ihrer Erklärung «die historische Bedeutung» der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). So wurden Schutz und Grundrechte auch in der Schweiz bedeutend weitergebracht. Das Urteil des Gerichtshofs gehe aber zu weit. Er habe «neues Recht geschaffen» und die Anwendung der EMRK «überdehnt», so Kommissionspräsident Daniel Jositsch vor den Medien. Der Bundesrat solle beim Ministerkomitee des Europarats auch klarstellen, dass die Schweiz mit ihrer Klimapolitik auf Kurs sei.
Internationaler Gerichtsentscheid wird erstmals kritisiert
Zuletzt verfassten beide Räte 2023 eine politische Erklärung zur Menschenrechtssituation im Iran und davor zum Krieg in der Ukraine 2022. Laut dem Parlamentsrecht können National- oder Ständerat solche Erklärungen «zu wichtigen Ereignissen oder Problemen der Aussen- oder Innenpolitik» abgeben. Gegen ein Urteil eines internationalen Gerichtshofs wurde rückblickend aber noch nie eine solche Erklärung verfasst.
Antragsinitiant ist laut «Tages-Anzeiger» der Walliser Mitte-Ständerat und Rechtsanwalt Beat Rieder. Mit zehn zu drei Stimmen sagte die Kommission ja. Darunter waren Vertreter der Mitte, der FDP und der SVP sowie der Kommissionspräsident Daniel Jositsch (SP). Gegenwind gab es von Vertretern der SP sowie von Grünen-Politikerin Céline Vara.
SVP fordert Kündigung des EMRK
Bereits zuvor wurde das Urteil aus unterschiedlichen Lagern scharf kritisiert. Kommissionsmitglied Carlo Sommaruga (Genf, SP) meinte etwa, die Erklärung sei eine «unzulässige Einmischung der Politik in die Justiz» und «ein Verstoss gegen die Gewaltenteilung». Auch die Präsidentin der Grünen, Lisa Mazzone, sprach von «einem schweren Angriff auf die Institutionen und die Achtung der Menschenrechte».
Daniel Jositsch geht sogar einen Schritt weiter. So wolle die Kommission mit ihrer Erklärung auch «weitergehende Vorschläge entkräften». Damit nimmt er Bezug auf einen Entscheid der SVP, welche einstimmig fordert, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention kündige. Das Gleiche hatten im April auch Mitte-Nationalrat Thomas Rechsteiner und FDP-Nationalrat Peter Schilliger in einem parlamentarischen Vorstoss gefordert.

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